VII. Von unnützen Flügeln und verlorenen Beinen  

Vögel gehören in die Luft, Fische ins Wasser und Säugetiere an Land. Dies ist die gängige Vorstellung. Je nach Selektionsdruck war es für Tiere jedoch vorteilhaft, ihren Lebensraum zu wechseln. Beispiele von Beobachtungen in Neuseeland illustrieren eine erstaunliche Umbildung von Gliedmassen.

Neuseeland hat sich vor 20 Millionen Jahren endgültig von den spärlichen Verbindungen zu Australien losgelöst. Im Laufe der Evolution entwickelte sich deshalb eine eigene Flora und Fauna. Bis zur Ankunft der ersten polynesischen Menschen gab es hier keine Landsäugetiere und somit auch keine Raubtiere ausser Vögel. Als Folge des Fehlens von Räubern war es für bodenbrütende Vögel am Boden völlig ungefährlich. Es entwickelten sich flugunfähige Laufvögel. Der grösste war der Moa. Die Weibchen konnten ein Gewicht von über 200 kg erreichen, während es Männchen lediglich auf 80 kg brachten.  Am Ende des 13. Jahrhunderts erreichten polynesische Einwanderer das zuvor menschenleere Neuseeland. Sie jagten die Moas intensiv, denn die Tiere kannten keine Scheu und ihr Fleisch war ausreichend vorhanden. Hundert Jahre später waren die Riesenvögel als Folge dieser Jagd bereits ausgestorben. Skelette von Moas fanden wir im berühmten Auckland Museum und im Visitor Centre Puke Ariki in New Plymouth.

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Skelett eines ausgestorbenen Moas in New Plymouth

Das Nationalsymbol von Neuseeland

Kiwis oder Schnepfenstrausse, die kleinsten aller Laufvögel existieren auf den Inseln Neuseelands in fünf Arten. Wer in der Schweiz das Wort Kiwi hört, denkt wohl zuerst an die braune pelzige Frucht mit dem saftigen grünen Fleisch. Diese Frucht stammt jedoch aus China und wurde erst 1906 als „Chinesische Stachelbeere“ in Neuseeland eingeführt. Sie wurde dort veredelt und wird seit rund 40 Jahren werbewirksam unter dem neuen Namen in alle Welt exportiert. Die Bewohner Neuseeland nennen sich stolz ebenfalls Kiwis.

Wir konnten die quirligen Braunen Kiwis im Kiwihaus in Otorohanga beobachten. Es ist verständlicherweise verboten, die nachtaktiven Tiere im abgedunkelten Raum mit Blitzlicht zu fotografieren. Kiwis gelten als diejenigen Vögel, welche vogeltypische Eigenschaften am stärksten verloren haben. Sie besitzen haarähnliche Federn, eine tiefere Bluttemperatur und offene Ohrenöffnungen. Die Nasenlöcher sind am Ende ihres langen Schnabels positioniert. Ihre Haut ist zäh und lederig. Wie die Säugetiere haben sie zwei Eierstöcke. Die verhältnismässig riesigen Eier haben harte Schalen. Diese wiegen rund 20% des Gewichts eines Weibchens. Die Jungen schlüpfen mit geöffneten Augen und verlassen das Nest nach etwa 14 Tagen. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Kiwis beträgt etwa 30 Jahre. Es gibt jedoch auch Tiere, welche 60 Jahre alt werden.

Kiwis besitzen keinen Brustbeinkamm mehr, an welchem normalerweise die Flugmuskulatur ansetzt. Ihre Flügel sind auf kleine, Krallen tragende Rudimente reduziert, welche nicht mehr unter dem Gefieder hervorschauen. Das Fehlen von Schwanzfedern verleiht dem Kiwi eine ovale Form. Die Beine sind weit nach hinten verlagert, was zum Laufen vorteilhaft ist.

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Drei verschiedene Kiwiarten, Präparate im Kiwi House Otorohanga

Operation Nest-Ei

Während die Maoris um 1350 bei der sagenhaften Landung der „Grossen Flotte“ in Neuseeland Hunde und Ratten mit sich brachten, importierten die Europäer etwa 500 Jahre später rund 35 weitere Säugetierarten, darunter Marder und Katzen. Als Folge gingen die Bestände der Kiwis drastisch zurück. Sie sind heute sehr selten geworden. Nur 10% der Jungtiere überleben in der Freiheit. Die Neuseeländer probieren mit zwei Methoden die Kiwis vor dem Aussterben zu bewahren. Diese sind eine rigorose Bekämpfung der feindlichen Prädatoren und die „Operation Nest-Ei“. Dabei werden die Eier wenn möglich eingesammelt und in fachkundigen Stationen ausgebrütet. Wenn die Kiwis alt genug sind werden sie in ein sicheres Revier gebracht, welches durch Zäune vor Feinden geschützt ist. Schliesslich werden sie wieder in die Wildnis entlassen. Erfolgreich hat man den Braunen Kiwi zusammen mit anderen endemischen Tieren auf der Insel Motuara in den Marlborough Sounds ausgesetzt. Diese ist frei von importierten Feinden.

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Ein 10 Tage alter Kiwi wird im Wildlife Centre Pukaha gefüttert

Derzeit gibt es mehrere Zuchtstationen für die Wappentiere. Besonders bekannt ist das Mount Bruce National Wildlife Centre in Pukaha. Wir konnten dort der Fütterung eines 10 Tage alten Jungvogels beiwohnen. In dieser Station gibt es als kleine Sensation auch einen zwei Jahre alten weissen Kiwi zu sehen. Dieser ist kein Albino, muss also reinrassige weisse Eltern des sonst braunen Kiwis gehabt haben.

Flugunfähige Pinguine

Pinguine unterscheiden sich von flugfähigen Vögeln durch ein schwereres und robusteres Skelett. Vögel brauchen zum Fliegen leichte Knochen. Für Pinguine bringt dies jedoch keinen Vorteil. Die kräftigen Knochen ergeben eine grössere Dichte und dadurch eine optimale Schwimmfähigkeit mit geringerem Auftrieb. Auf der Halbinsel Otago beobachteten wir Blaue Pinguine, die kleinsten Pinguine überhaupt. Wir fanden diese zierlichen Tiere und deren Erdlöcher zuvor schon im südlichen Australien und auf Tasmanien.

Der Gelbaugenpinguin brütet ausschliesslich im südlichen Neuseeland und auf kleinen subantarktischen Inseln. Er gehört gemeinsam mit dem Galapagos-Pinguin und dem Fjordlandpinguin zu den seltensten Pinguinarten und wird von der IUCN derzeit als gefährdet eingestuft. Aus guter Deckung sahen wir auf den Halbinseln Banks und Otago insgesamt vier solche Gelbaugenpinguine. Unglaublich, welche Klippen und Hänge diese drittgrössten Pinguine zu überwinden vermögen, um vor den gefrässigen Seelöwen sicher zu sein!

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Kleiner Blauer Pinguin im Antarktiszentrum in Christchurch

Vom Land zurück ins Wasser

Die Vorfahren der grössten lebenden Säugetiere lebten einst auf dem Festland. Die Wale, zu welchen auch die Delfine gehören fanden den Weg zurück ins Wasser. Dabei reduzierten sich im Laufe der Jahrmillionen die Vorderbeine zu Paddeln mit kurzen Arm- und langen Fingerknochen. Das Becken und die Hinterbeine sind nur noch rudimentär vorhanden. Sie haben keine Funktion mehr. Im Wellington Harbour jagte eine Gruppe von Schwertwalen vor unserem Fernglas den Stachelrochen nach. Die äusserst seltenen Hector‘s Delfine leben ausschliesslich vor der neuseeländischen Küste. Die Tiere präsentierten sich uns im Becken des Akaroa Harbour südöstlich von Christchurch. Diese kleinsten aller Wale sind an der abgerundeten Rückenflosse und an der grauen Färbung gut zu erkennen.  

Am Ohau Point an der Ostküste der Südinsel sahen wir viele hundert Neuseeländische Pelzrobben oder Seebären, vorwiegend Weibchen. Sie säugen dort auch ihre Jungen. Die selteneren Neuseeländischen Seelöwen sind deutlich grösser. Bei beiden sind alle vier Beine zu Flossen umgewandelt. Der flache Oberschenkelknochen ermöglicht eine effektive Kraftübertragung im Wasser. Die Zehen sind durch Schwimmhäute miteinander verbunden. Die Hinterbeine wurden ans äusserste Körperende verlagert. Die Oberarmknochen wurden kürzer, aber kräftiger. Robben können ihre Hinterbeine nicht mehr zum Laufen benutzen. Sie sind auf den rauen Felsen aber trotzdem recht wendig, indem sie „robben“.
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Hector’s Delfine begleiten unser Boot im Akaroa Harbour

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Eine Neuseeländische Pelzrobbe sonnt sich auf einer Steinplatte

Während manche Tiere Beine und Arme fast gänzlich verloren haben, wurden bei anderen die Extremitäten völlig verändert. Bei Fledermäusen, den einzigen heimischen Landsäugetieren Neuseelands sind die Vorderbeine mit Flughäuten ausgerüstet und zum Fliegen umgestaltet. Bei Menschen ist gar eine noch grössere Veränderung festzustellen. Da verlieren Verliebte manchmal den Kopf. Sie sichern so der Nachwelt das Überleben der Art Homo sapiens!

(erschienen im Urner Wochenblatt vom Samstag 4. Mai 2013)

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